Am Ende des Jahres (in den Tagen zwischen Weihnachten und Epiphanias) war es im Mittelalter Brauch, Liturgie und klösterliche Kultur zu persiflieren. Bereits in der heidnischen Antike waren dies die „Saturnalien“ mit besonderen Festen und Spielen, die vor allem der sozialen Psychohygiene dienten. Das Christentum hat diese Traditionen übernommen: Anläßlich des Festes der „Unschuldigen Kinder“ am 28.12. wurde ein Kinderabt/ Kinderbischof installiert, der einen Tag über das Kloster/Stift herrschte. Unter Anwesenheit der Kleriker wurden dann scharf karikierende Parodien der Messe und des Stundengebetes aufgeführt – zum Teil mit sehr derben oder erotischen Texten. Im Zentrum standen (wie heute auch) Sex, Alkohol und Glücksspiel …
Unsere „Würfelspieler-Messe“ ist einer hochmittelalterlichen Sammelhandschrift, den Carmina burana (Bayerische Staatsbibliothek München, Clm 4660/4660 a – mit dem Officium lusorum auf fol. 93v – 94v), entnommen.
Das Officium lusorum behandelt das Laster des Würfelspiels. Eine wichtige Rolle hierbei spielt Decius, eine fiktive antike Gottheit, die angeblich für das Würfelspiel zuständig ist. De facto gab es diesen Gott nicht; wohl aber ist eine sprachliche Brücke das Wort datum (Gegebenes, Geschenktes), das sich in der französischen Vokabel für Würfel („de“ – Würfelspiel: „jeu de dés“) wiederfindet. Daher kann im Text auch von den decii die Rede sein – womit dann mehrere Würfel gemeint sind.
Die Texte sprechen für sich: Das Würfelspiel wird als unmoralisch beklagt, denn es macht den Reichen arm (manche Reiche freilich NOCH reicher!) und lässt dem glücklosen Spieler keine Münze mehr im Geldbeutel – zudem auch kein Kleidungsstück mehr am Leib.
Mehr noch als dieser Inhalt ist aber die Form bemerkenswert, die der anonyme Verfasser des Officium lusorum wählt: Er nimmt sich gregorianische Gesänge, die zu seiner Zeit jeder kannte, da sie im Kirchenjahr öfters vorkommen. Ihre Melodien werden weitestgehend beibehalten, gelegentlich etwas gekürzt. Die Texte aber sind inhaltlich genau in ihr Gegenteil verkehrt: Aus „Gaudeamus“ (Lasst uns freudig sein) wird „Lugeamus“ (Lasst uns trauern); aus dem Titel der Apostelgeschichte (Acta apostolorum) wird eine nicht definierbare Vokabel („apopholorum“), die klingt, als habe man den echten Titel ohne Gebiss im Mund ausgesprochen! Der Inhalt der ursprünglichen Perikope (die Erscheinung des auferstandenen Christus bei seinen Jüngern und die Geschichte vom ungläubigen Thomas) wird auf Decius und einen Erzhalunken (Virilissimus) namens Primas umgemünzt. Aus dem Hochgebet und dem Segen werden Fluchgebete. Dabei ist immer wieder äußerst amüsant, wie phonetisch nahestehend sich Urtext und Verballhornung sind (siehe auch die folgende Gegenüberstellung):
„Laus/Lob – Fraus/Betrug“, „Oremus/Lasset uns beten – Ornemus/Lasset uns uns schmücken“, „Evangelii secundum Marcum/Frohbotschaft nach dem Evangelisten Markus – Evangelii secundum marcam argenti/Frohbotschaft nach dem falschen Silberling“ etc.
Ein Meisterstück ist hierbei die Sequenz Victimae novali zynke, die nicht nur der Ostersequenz Victimae paschali laudes täuschend ähnlich nachgebildet ist, sondern an einigen Stelle als überzählige Silbe den Ausruf Ses („Sechs“ Augen auf dem Würfel) aufweist. Viele Wortspiele zeigen es uns ganz deutlich: Es waren Kleriker (Priester und Mönche), also „Fachleute für Latein und Liturgie“, die diese Kompositionen schufen, die aufführten und ihnen lauschten. Ohne gründliche Kenntnis des Originals hätte niemand den Schabernack entschlüsseln können …
Text: Stefan Klöckner
Fotos: Dominik Schneider